Marion Strunk
TUN und LASSEN. Gelassenheit.
(2.Titel: Lassen. Gelassen. Ruhig. Gehen.)
Meine Füsse gingen lieber aus der Zeit, sagt Rosetta in Büchners Leonce und Lena, 1836, und singt und tanzt.
Leonce: Ach, Rosetta, ich habe entsetzliche Arbeit…
Rosetta: Nun?
Leonce: Nichts zu tun.
Rosetta: Als zu lieben!
Leonce: Freilich Arbeit!
Rosetta (beleidigt): Leonce!
Leonce: Oder Beschäftigung.
Rosetta: Oder Müssiggang.
Ausserhalb der Zeit sein, sich aus der allgemeinen Zeit herauslösen. Leonce versteht sie nicht. Müssiggang ist aller Laster Anfang. „Für müde Füsse ist jeder Weg zu lang.“ Leonce weiss nicht, was ihn „noch könnte laufen machen“. Kein Sinn mehr, kein Versuch, der Langeweile zu entgehen, deren Ende nur wieder ihr Anfang ist. Nur noch ein Ideal: die Schöne. „Ich glaube an Träume.“ Auch Valerio tanzt und singt. „Ich habe eine grosse Beschäftigung, müssig zu gehen.“ Der Mensch muss denken, sagt der König. Valerio muss lachen und kann sich kaum mehr halten vor Lachen, als Leonce vom Reiche Popo mit Lena vom Reiche Pipi Hochzeit feiert. „Eure Hoheiten sind wahrhaftig durch den Zufall einander zugefallen; ich hoffe, sie werden dem Zufall zu gefallen, Gefallen aneinander finden.“ König Peter ist gerührt und will „sogleich ungestört zu denken anfangen“. Die Liebenden haben sich zum Glück gefunden. Leonce kann das Stück beenden: „Morgen fangen wir in aller Ruhe und Gemütlichkeit den Spass noch einmal von vorne an.“ Der Traum vom geglückten Dasein, die Hoch-Zeit, wird eine hohe Zeit der Liebe. „Wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur noch nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht.“ Fülle und Verschmelzung treten gegen Disziplin und Arbeit an. Valerio, der Komiker, hat das letzte Wort des Stückes: „… dass jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweisse seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird; und dann legen wir uns in den Schatten …“ Das Lob des Müssiggangs schliesst sich der glücklichen Hochzeit an.
Die Schwebe dieses Zustandes, dessen Methode die Ironie ist, hebt ab in eine verkehrte Welt und eigenartige Zeitvorstellung. Das Leben, so wie es ist, kann nicht ernst genommen werden. Heiterkeit ist das Stichwort. Der Körper tanzt. Es geht um das andere Leben. Aus der Zeit gehen. Das Bild der tanzenden Füsse. Geschichtsverweigerung. Der Wunsch, aus der Geschichte auszutreten, die nicht im eigenen Namen geschrieben ist, in der ihr eigener Name gar nicht vorkommt, da alles unter ein Gesetz und ein Geschlecht gestellt ist. Rosetta hat einen kurzen Auftritt im Stück und einen kleinen Dialog, unerhört. Valerio bleibt. Die Freiheit des Narren, der seine Wahrheit sagen darf und sein Lachen in der hohlen Hand halten; der dazu lächelt, die Liebe in der Ironie zu sehen, wohl wissend, dass sie das Ideal nicht erreicht, der aber deswegen nicht melancholisch wird oder zu klagen beginnt, dass sie ihn verlassen hat.
Müssiggang als Gegensatz zur Arbeit und zu einem Arbeitsbegriff verstanden, der mehr Last als Lust bedeutet und alles andere zum Laster macht, erzählt von seiner Geschichte und den Geschichten der Musse, die ihren Gang nimmt. Die Frage nach Sinn, Zweck, Nutzen und Ziel stellt sich den müssig Gehenden nicht. Ihr Bereich ist durch und durch zweckfrei und ziellos, keine Leistung, aber ein intensives Tätigsein.
Der Müssiggang setzt einen Anfang, der das Ende der entfremdeten Arbeit ist und die Umwertung der Werte bedeutet. In der Industriegesellschaft wird der Müssiggang ein Versuch zur Befreiung. Der realistische Büchner schliesst ihr die Ironie der Romantik an.
Hundert Jahre später tritt eine andere Figur in Erscheinung: die Sängerin. Kafkas Josefine, sie pfeift, nutzlos und weder schön noch gut. Josefine erklärt ihr Pfeifen zur Kunst und spricht von Lebenskunst, die die Last der Arbeit weglassen kann. Alle könnten pfeifen. – Es gäbe in der Utopie, wie Marx bemerkte, keine Künstler mehr, weil alle unter anderem auch Kunst machen würden. –
Frauenfiguren wie Rosetta und Josefine repräsentieren die Sehnsucht nach dem Leben in der Kunst im Geiste Pygmalions. Bilder, für die der weibliche Körper zur Leinwand wird. Im Bild und als Bild gefangen. Festgeschrieben und verkörpert. Bildkünste und Kunstbilder, Nähe in die Distanz gesetzt. Die Erfahrung des Anderen als Erlösung erscheint als grosses Versprechen von Glück.
Die Informationsgesellschaft stellt Zeit frei, allerdings nicht freiwillig, doch sie schafft die klassische Arbeit zunehmend ab. Die Arbeitslosen können sich mit Kunst beschäftigen, was die weltgeschichtliche Tragödie der Arbeitslosigkeit zynisch in eine Farce verwandeln könnte. Arbeit verliert die Qualität, ein verbindliches Mass für Zeit und Leben zu sein. – Paradoxerweise wird heute von ‚künstlerischer Arbeit‘ gesprochen, nicht mehr von Werk, was über Kunst aussagt, dass sie erarbeitet ist. –
Der Müssiggang ist aber innerhalb eines die Kapital-Logik der Arbeit kritisierenden Vorhabens und Entwurfs von Leben entwickelt worden, besonders in der Romantik. Novalis spricht von ‚geistiger Gegenwart‘, in der es keine Trennung gibt, nicht von Vergangenheit und Gegenwart, von Traum und Wachsein, von Passivität und Aktivität, nicht von Ernst und Spiel, der ‚freischwebenden Aufmerksamkeit‘ vergleichbar, die später Freud verlangte. Eine Konzentration für das Ohr, nicht für das Auge. Das Zuhören. Oder Kairos, ein erfüllter Augenblick. Fliegen. Tanzen. Das sind Bilder des Müssiggangs. Momente in der Schwebe. Das Zeitlose. Unbestimmtheit im Wechselspiel von Gelöstheit und Konzentration. Georges Bataille wählte dafür das Wort souverän. Die Souveränität besteht darin, „uns nicht auf den Zustand eines Dinges reduzieren zu lassen, sondern bis zu einem gewissen Grade das zu sein, wozu die nützliche Arbeit dient, ein souveränes Wesen. Damit wird ein Wesen bezeichnet, das nicht länger vom Kalkül der Zwecksetzungen bestimmt wird.“ Müssiggang als Haltung für die Kunst ist in diesem Sinne Lebenskunst. „Die Souveränität der Kunst fordert die unauffällige Deklassierung aller, die sie leben. Sie setzt die Verweigerung des allgemeinen Strebens nach dem Rang voraus, die Verweigerung oder besser: eine Bewegung, die sich durch Schweigen entzieht. Die souveräne Kunst nämlich bezeichnet genau den Zugang zu einer souveränen Subjektivität, die vom Rang unabhängig ist, die einen anderen Weg als das Streben nach dem Rang geht.“
Eitelkeit, Macht, die sich an Gewalt bindet, Ruhm und Herrlichkeit sind nicht Sache des Müssiggangs. Den Kreislauf von Unterdrückung und Selbstunterdrückung unterbrechend, entsteht in ihm eine Selbstlosigkeit, im Unterschied zur Selbstaufgabe, die Bataille als Weigerung bezeichnet, „die Weigerung, sich subordinieren zu lassen, gebunden an die Weigerung, andere sich zu subordinieren.“ Auch Nietzsche hat den deklassierten, modernen Müssiggang gewählt, Menschen, von denen „die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, die auf vieles, fast auf alles, was bei den anderen Menschen Wert hat, ohne Neid und Verdruss verzichten, ihnen muss als der wünschenswerteste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen. Die Freude an diesem Zustand teilen sie gerne mit und sie haben vielleicht nichts anderes mitzuteilen.“
Nein, nicht schweben, gehen. „Wer aber seinem Ziel nahe kommt, der tanzt“, sagte Nietzsche.
Valerio legt sich in den Schatten und findet das Leben angenehm, im hellen Licht der Aufklärung mag er nicht stehen. Das vernünftige Denken macht ihn gähnen. Aber im Schatten scheint er das Dunkle nicht zu sehen. Den Schrecken. Das Finstere. Für ihn ist die Langeweile ein Ungeheuer.
Die Freude, von der Nietzsche spricht (er nennt sie auch Heiterkeit) kennt das Abgründige, und er will sie davor bewahren, nur apollinische, ihre Abgründigkeit verleugnende Scheinwelt zu werden. Seine Heiterkeit ist eine tragische, Schmerz und Leid nicht leugnende Heiterkeit. Gelassenheit ist ihr seit der Antike verwandt, die Fähigkeit zum Lassen, was „nicht in meiner Macht ist“, wie Seneca sagte. Die Selbstmächtigen haben das Gemachte fallen gelassen, nicht zurückgelassen. Als Erinnerung bleibt es im Gegenwärtigen ohne Macht. Über die Seelenruhe. Ruhig sein, was nicht dasselbe ist wie das, was die ordnende Ruhe verlangt. Die Moderne prägte den Begriff des Widerspruchs, dem Konfliktmodell folgend, in dem sich die Gegensätze in eine neue Qualität auflösen sollten. Optimismus. Revolte und Revolution. In der Kritik an der Moderne wird die Ruhe zur Offenheit, in der die Widersprüche nicht aufgehoben werden können, sondern unversöhnt weiter existieren. Die Bewusstwerdung bringt das Unbewusste nicht zum Verschwinden. Das Unbewusste bleibt zeitlos und im Imperfekten wie die Körper. In der Heiterkeit verliert es seine Macht und Gewalt. Es beruhigt sich in der Kohärenz des Verschiedenen.
Das Lachen, die Distanz des Humors, ist ein starkes Moment der Heiterkeit. Die Melancholie bevorzugt ein Ach, will sich grübelnd im Kreise drehen und nur den Boden sehen. Die Bewegung der Heiterkeit ist das Gehen. Nicht der aufrechte Gang. Der Müssiggang. Waldgänge. Die Moderne glaubte noch an den grossen Schritt nach vorn. Tempo: Beschleunigung. Rasender Stillstand, sagt Virilio. Die optimistische Technikentwicklung hinkt allem anderen hinterher.
Heiterkeit ist als Erleichterung zu entdecken. Wie der Trost nicht über das Schwierige hinweggeht, bleibt sie nicht am Abgrund stehen, bis ihr schwindlig wird beim Hinuntersehen. Von der oberflächlichen Fröhlichkeit unterscheidet sie sich in Erhabenheit. Ab und zu verbindet sie sich mit Ausgelassenheit und in glücklichen Momenten mit Übermut. Distanz und Ruhe folgen dabei nicht dem kühlen Verstand, sie lassen sich vielmehr auf Momente und Gefühle ein, im Abstand vom Grüblerischen und den Wolken ums Gemüt. Heiterkeit entwickelt eine andere Form von Leben: das Lassen. Keinen Stillstand, vielleicht Stille oder Langsamkeit als eine aktive Handlung.
Für Heidegger wird Gelassenheit zur ‚Kehre‘, zur Möglichkeit, Transzendenz und Metaphysik überwinden zu können. Nach der Kehre ist ein anderer Anfang da, einer, dem eine Wende folgt: Feldweggespräche, die Denkwege werden. „Denken heisst, den Faden verlieren.“ Ein Denken, das nicht allem auf den Grund geht, es geht auf Feldwegen in die Nacht als das Lassen des Wollens und Einlassen auf das, was nicht Wollen ist. „Vielleicht verbirgt sich im Wort Weg, Tao, das Geheimnis aller Geheimnisse des denkenden Sagens, falls wir diese Namen in ihr Ungesprochenes zurückkehren und dieses Lassen vermögen.“ Die Wege enden, indem sie ruhen. Sammlung. Alles beieinander haben. Wer nicht trennt, verbindet Konzentration und Intensität. Achtsamkeit, ruft die Philosophie im Morgenland: Meditation. Verdichten und Verweilen. Beisichsein. Eine Weile lang. Dicht machen und dichten, absichtslos. Lassen ist nicht Weglassen, ein Weniger, das Lücken schafft, es ist Zulassen, Loslassen ohne Netz und doppelten Boden. Ein Wagnis eingehen ins Ungewisse, als wäre es das Schönste. „Gegnet“, nennt dies Heidegger – ein altes Wort für Gegend. „Die Gelassenheit kommt aus der Gegnet, weil sie darin besteht, dass der Mensch der Gegnet gelassen bleibt (…). Er gehört ihr, insofern er der Gegnet anfänglich ge-eignet ist, und zwar durch die Gegnet selbst.“ Die „Gegnet“ in ihrer Gegenwärtigkeit und Nähe zu erleben, verweist auf eine nicht durch festgelegte Begriffe vermittelte Wahrnehmung und beschreibt diese als Zustand von Anwesenheit wie ein Ereignis. Die Heideggerische Gelassenheit der „Gegnet“ sieht ab von der Vorstellung und dem Bereich des Willens, durch den sich das moderne Subjekt konstituieren sollte, woraus eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen resultiert. Dies könnte also den Dingen erlauben, nicht mehr nur Objekt in Bezug auf ein Subjekt zu sein, und den Subjekten, nicht mehr nur Subjekt in Bezug auf ein Objekt, also Subjekte sich nicht in einem Subjekt-Objekt-Verhältnis begegnen müssten, sondern als Subjekt gegenüber einem anderen Subjekt im Sinne gleicher Gültigkeit. Die Verschiedenheiten der Einzelnen würden sie nicht voneinander trennen. „Die Gelassenheit ist in der Tat das Sichloslassen aus dem transzendentalen Vorstellen und so ein Absehen vom Wollen des Horizonts.“
Nähe und Ferne beziehen sich in ihrer Dynamik aufeinander wie ein Ankommen, das auch Weggehen ist und kein Ort wird, ein fester Standpunkt oder Halt. Nähe schliesst Ferne nicht aus. Das ist ihr Geheimnis. Also Offenheit für das, was gegenwärtig und anwesend ist wie ein Kraftfeld und im Unterschied zur Sehnsucht Geheimweh ist. Eine Ästhetik der Anwesenheit. Ihre Offenheit zeigt ein Geheimnis, das nicht verheimlicht werden muss, es kann sich zeigen, da es sich im Zeigen zugleich entzieht und nicht vereinnahmt werden kann, auch nicht von der Macht. Was eine Kunst ohne Absicht meint. In ihr ist Kunst kein Privileg, sondern eine Handlung, die absieht von der Kunst, absichtslos.
„Der menschliche Geist hat mit Hören zu tun. Sehen Sie das ein? Vielleicht ja, vielleicht nein. Was sehen wir? Wir sehen ein Kaninchen.“ Oder: „Den Wald sehen.“ Das Ganze kann man aber nicht sehen. Wenn der Anfang nicht auszumachen ist, bleibt der Wald ein oberflächliches Bild, festgehalten im Blick. Auf Dauer würde dieses Sehen wenig entdecken, es sei denn, der Zoom werde eingestellt oder eine technische Prothese, die das Detail vergrössern kann. Eine Nähe aus der Distanz wie das Auge es will. Andererseits besteht bekanntlich die Gefahr, gar nichts mehr zu sehen, im Kleinen stecken zu bleiben, die Distanz zu verlieren, von der aus die Erlebnisse zu Beobachtungen werden. Im Unentschiedenen sind die freieren Bewegungen möglich und müssen nicht auf einer Linie laufen. Wer dabei an Wald denkt, meint Rhizom. Oder eine Reise von einem zum anderen. Romantisch aufgefasst, ist der Wald ein Ort der Begegnung und Anlass für ein Zusammensein. Und wenn vom Gehen gesprochen wird, der Tat, kommen die Wege ins Bild, das Wandern oder die Highways, die Autobahnen, das Auto und vielleicht Autopoiesis als Subversion des Unterwegsseins in den Netzen, die nett und internet verwoben sind und wie die Bäume zum Wald werden können.
Gelassenheit wird ein anderes Wort für Haltung, die es braucht, nicht um aus der Zeit hinauszutreten, um einen Anfang zu machen, der nicht sogleich auf ein Ende hinaus geht und das ganz Andere im Auge hat. Vielleicht um nachzudenken, sich zu sorgen, auf etwas zu achten oder sich zu freuen. In der aber die Einzelnen sich zu eigen sind und mit sich etwas anfangen können, was nicht auf einen Gegensatz oder eine Gegenwelt hinauslaufen muss oder mit Affirmation oder Laisser-faire zu verwechseln wäre. Es geht um Zuneigung oder um Aufmerksamkeit für das, was ist. Das ganz Andere wird nur eine Drehung im Kreis, Revolte und Revolution als die schnellen Mittel der Drehung nur eine Umkehrung, deren Wende kein Ende des Bekannten bedeutet hat. Langsamere Formen, Berührungen, die das Differente zulassen, verstecken ein Geheimnis bei aller Offenheit und lassen eine Verschiebung in das Offene zu, in dem das ganz Andere nicht vorkommt, wohl aber ein Unterschied in der Wiederholung. Das gelassene Tun wird zum Absehen von der Absicht. Es ist das Einlassen ohne Wollen auf das, was nicht ein Wollen ist. Auch Denken. In der Gelassenheit verliert es seine Begriffe und metaphysischen Gewissheiten für ein dichtendes Denken in der Intensität des Vergänglichen. „Denken ohne Geländer“, sagte Hannah Arendt.
Das Bemühen um Veränderung, die Errungenschaft der Moderne, bleibt bestehen, nur zielt es nicht auf das eine absolute Ganze. Im Moment der Veränderung, strebt es nichts an und nirgends hin, geht nur weiter bis es wieder einen Unterschied setzt und Anfang macht. Die Veränderbarkeit fixiert sich somit nicht auf das Neue als das noch nie Dagewesene, sie bezieht sich auf die Kohärenz des Anfangens und des Unterscheidens.
War die Utopie des ganz Anderen mit der Idee der Erlösung verbunden, geschaffen aus dem Leidensschatz des Subjekts gegen den Fortschritt, ist es mit den Rückschritten im 20. Jahrhundert an seinem Ende dazu gekommen, nichts mehr zu erwarten, auch kein Ausserhalb zu imaginieren, sondern mitten drin Gelassenheit anzunehmen wie eine Gabe. Wovon das Wort Hingabe spricht. Keine Wende oder Rettung. Und kein Ort, wohin etwas zu retten wäre. Widerstand zwecklos. Die Unruhe der Einzelnen kann sich im Gehen beruhigen, nicht im Rennen oder Verbrennen, um dem entgegenzukommen, was sie angeht. Die Kraft beziehen sie aus der Präsenz der Aufmerksamkeit. Die Neuzeit nennt das Kunst: eine Tätigkeit, die Herstellung und Herausstellung ins Offene und Öffentliche ist. Positionierung von Anwesenheit, die gleichzeitig Abwesenheit markiert und von dem Blick auf das Ganze absieht. Die Technik hingegen bringt nichts hervor, sie muss nur funktionieren.
„Gelassenheit fängt mit der Bereitschaft an, sich vom Wirklichen anstrengen zu lassen (…) und erwächst aus dem Vorteil, nicht gesiegt zu haben“, sagt Sloterdijk. Sie kann der Name sein, die Anrufung derer, die nicht mehr zu allem entschlossen sind, aber geneigt, von den Anstrengungen wegzugehen wie auf Erholungsreise. Sie wird eine Inszenierung von denen, die wissen, was es heisst, sich am Unmöglichen abgearbeitet zu haben. Eine Anstrengung des Selbstvertrauens kann dann die zugelassene Art und Weise sein, vom gelassenen Seinlassen der Dinge im Sinne der Selbsterhaltung zu sprechen.
Es ist nichts mehr zu machen, sagen einige. „Man ist in den Folgen des Machens und im Machen an den Folgen des Machens festgestellt.“ Alles machen zu wollen heisst, nichts geschehen lassen zu können. Sicher, es wäre fahrlässig, in entscheidenden Momenten alles geschehen zu lassen. Die Machenschaften könnten sich zu totalen und totalitären Machwerken ausdehnen, ohne sich tot zu laufen. Wenn etwas gemacht wird, das nicht geht, findet die Gelassenheit ihr Ende.
Das Motiv zur Veränderung richtet sich nicht auf Revolutionierung des Bestehenden, es richtet sich auf einen permanenten Prozess der Wandlung und Verwandlung und auf ein Anderswo, das nicht ausserhalb ist. Für die Einzelnen könnte dies die Ausdehnung der Person in das Multiple der Persönlichkeit sein, auch Selbstsubversion: Überschreitungen des Ichs in viele. Also kulturelle Strategien und Praktiken zu entwickeln, die sich nicht zu universalen Botschaften bündeln lassen, die vielmehr eine Ästhetik für den Alltag konstruieren, in dem sich die Unterschiede ausbreiten können, ohne sich in Ideologie oder Homogenität festzuschreiben.
Das Sich-Reiben an den Mangelerscheinungen, verbunden mit Idealen der Befreiung, der Kampf für das ganz Andere, scheinen ihre Wirkung verloren zu haben. Was heute im Vordergrund steht, ist die Faszination an den verschiedenen Möglichkeiten mit offenem Ausgang. Dies hat nichts mit Identität zu tun, sondern mit Identifikation, und ist deswegen nicht subjektzentriert, sondern kontextgebunden.
Die Subjekte sind unterworfen und entwerfen sich. Autonomie wird als Vorstellung der Unabhängigkeit absurd. Das sich vielfältig erfahrende und entfaltende Subjekt kann den bestehenden Verhältnissen nicht ausweichen und den Machtstrukturen nicht entkommen. Es kann nur anders mit ihnen umgehen, was auch eine Veränderung bewirkt. Die Grenzen, die hierbei von den Einzelnen gezogen werden müssen, verlangen nach Entscheidungen, denn das Subjekt kann nicht unabhängig von den Verhältnissen als immer Gleiches existieren. Im Augenblick der Entscheidung bringt sich das Subjekt hervor. Entscheidungen können aber nur in einem bestimmten Kontext getroffen werden, somit erscheinen die, die wählen, als autonome Subjekte ihrer Handlung. In ihrem Handeln sind sie gleichzeitig einer gewissen Unentscheidbarkeit ausgesetzt, und dies weist darauf hin, dass sich Macht und Antagonismen nicht auflösen lassen und das Entscheidbare an Machtverhältnisse gebunden bleibt. Innerhalb der Machtspiele kommt es darauf an, mit dem geringsten Aufwand an Herrschaft zu spielen, denn die Antagonismen und Widersprüche sind Bedingungen der Kreativität, nicht die der Macht, und die Konzentration auf die Intensität der Erfahrung zu lenken, die wiederum zu der Gelassenheit führt, von der die Rede ist. Gelassenheit geht also davon aus, dass die sich entfaltenden Ereignisse immer auch andere sein können und keine Gewissheit geben.
Hatte die Moderne ihre Einheit in Form von Weltbildern entworfen, die eine gemeinsame Identität festschrieben, kann in der aktuellen Debatte keine und keiner eine Legitimation ausmachen, über das Ganze zu sprechen. Zwei miteinander in Konflikt stehende und voneinander abhängige Strömungen können sich anscheinend nicht mehr dialektisch aufeinander beziehen, um in einer Synthese aufgehoben zu werden. Das moderne Konstrukt des vereinheitlichten und scheinbar autonomen Subjekts ist erstarrt und im Stupor gefangen, unflexibel in die Versprechen der Erlösung verstrickt, aus denen es als enttäuschtes, melancholisches Ich hervorkommen konnte. Das Scheitern der Metaerzählungen der Moderne, der grossen Entwürfe des Totalen, zeigt: Das vertagende Hoffen auf eine bessere Welt, das Verlangen nach einer grundsätzlichen Alternative zur bestehenden Ordnung der Dinge bleibt eine Utopie – kein Ort. Nicht das eine wird erhöht über alles andere, das andere wird in Erweiterung des einen zu vielfältigen Möglichkeiten in der Ausbildung von mehreren Identitäten in unterschiedlichen Kontexten, womit auch eine Gelassenheit gegenüber Wertsetzungen verbunden ist.
In der Frage nach dem Subjekt hat eine Verschiebung stattgefunden: Subjektsein bestätigt sich nicht mehr im Bewahren von einmal gelernten Tugenden oder Idealen, sondern im Bewähren des Verschiedenen. Die Erfahrung des Bruchs, der Fragmentierung des einen in vieles, verliert dabei ihren ängstigenden Anteil. Unsicherheiten auszuhalten, Unbestimmtes und verwirrende Vielfalt, erscheint dabei ungleich schwieriger als ewige Wahrheiten anzunehmen. Das heutige Verständnis von Identität besteht hauptsächlich darin, die Festlegung auf eine Identität zu vermeiden und die Bewegung des Verschiedenen, auch die Schwankungen und Ambivalenzen, zuzulassen. Die Fähigkeit, Unterschiedliches miteinander zu verbinden, wäre das Wagnis, die Probe und die Herausforderung. Also den gelassenen Zustand oder Umgang aufzunehmen, der die Verschiebung der Wahrheit in das Unbestimmbare zulässt. Der Unterschied, den die Wiederholung setzt, besteht in der Konzentration auf das Gegenwärtige mit offenem Ausgang und radikalisiert den Demokratiegedanken ohne vertagbare Alternativen.
Rationalität, Einheit, Form sind Sache der künstlichen Intelligenz geworden: des Computers. Die Fragestellungen des Subjekts werden nicht mehr ausschliesslich nach innen an das Selbst gerichtet, sondern nach aussen an die Automaten, mit denen die Subjekte jede beliebige Verbindung eingehen können. – Auch die Liebe stellt keine Erlösung aus der Zeit mehr dar. Im Privaten sitzt ihr Gott wie Nam Jun Paiks Buddha vor dem Fernseher. Das Wissen um ihre Unzulänglichkeit intensiviert das Verlangen so wie der Wiederholungszwang das Trauma. Scheitern ist keine Überraschung mehr, denn alle wissen: ein Schiff kann untergehen. Und wenn die Dinge keine Lösung finden, kann die Interaktion in die mächtige Welt der Fantasie verlegt werden. -– Das Neue entsteht aus der Verknüpfung und den Falten, worin die Ereignisse nicht zu zeitlichen Begriffen, sondern zu räumlichen Momenten organisiert werden, was eine pragmatische Strategie des Handelns ist. Eine Praxis des Gehens. Kreativität zeigt sich darin als jener Rest an Subjektivität, immer wieder andere Zustände und Fragmente als Spiele zu entwickeln. Die Spielenden produzieren Möglichkeiten, die im offenen Raum des Zulassens ohne Idol und ohne Ideologie auskommen, die keine Vorbilder werden, aber Bilder – subjektive Wirklichkeiten, Konstruktionen. Bildspiele. Sprachspiele. Kontemplation und Innovation. Die Automaten funktionieren in ihren digitalen Formen dagegen distanziert und kühl. Spiele sind aber auch sinnliche Verführungen, sie richten sich an den oder die Andere und nicht an eine Allgemeinheit und bewahren Unterschiede. Das ist keine Sache des ganz Anderen, es ist eine der Interaktion im Dialog, wozu es nicht nur ein Paar braucht, sondern zwei und noch viel mehr. Eine Ästhetik der Anwesenheit würde also einen Unterschied setzen zu der Ästhetik der Repräsentation und die Sinne in anderer Weise evozieren. Der ästhetische Zustand als das absichtslose Verfahren der Gelassenheit beendet dann den eines bestimmten Bildes zur Beschreibung von Gewissheit. Womit sich auch die Ironie verbinden könnte, in diesem Spiel als lässige Distanz.
Literatur
Georges Bataille: Die innere Erfahrung, München 1999.
Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995.
Georg Büchner: Leonce und Lena, Reclam, Stuttgart 1980.
Alain Finkelkraut: Verlust der Menschlichkeit. Versuch über das 20. Jahrhundert, Klett-Cotta, Stuttgart 1998.
Hans Ulrich Gombrecht: Präsenz. Gelassenheit, in: Postmoderne. Eine Bilanz, Sonderheft Merkur 9/10, Klett-Cotta, Stuttgart 1998.
Martin Heidegger: Gelassenheit, Neske, Pfullingen 1992.
Dietmar Kamper: Lassen. Eine einfache Lösung, in: ders. Ästhetik der Abwesenheit, Fink, München 1999.
Friedrich Nietzsche: Werke in 3 Bänden, Hrsg. K. Schlechta, München 1966, darin: Bd. 1,
Menschliches. Allzumenschliches.
Ryosuke Ohashie: Ekstase und Gelassenheit, Fink, München 1975.
Bertrand Russell: Lob des Müssiggangs (1935), in: Philosophische und politische Aufsätze, Hrsg. Ulrich Steinvorth, Stuttgart 1977.
Richard Rorty: Eine Kultur ohne Zentrum, Reclam, Stuttgart 1993.
Wilhelm Schmidt: Von der Kunst, heiter zu leben. Anleitung zu einer Philosophischen Selbstsorge, in: Kursiv, o.ö. Kulturzeitschrift: La Dolce Vita, Jahrgang 6, Nr. 2/3/99.
Situationistische Internationale: 1958-1969, Gesammelte Ausgaben des Organs der Sit. Internationale, Band 1, Hamburg 1976, darin: Beitrag zu einer situationistischen Definition des Spiels.
Peter Sloderdijk: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Edition Suhrkamp, Frankfurt 1989.
Susanne Stiefel: Lebenskünstlerinnen unter sich. Eine Liebeserklärung an die Gelassenheit, Rowohlt TB, Hamburg 1999.
Marion Strunk und Harm Lux: Den Wald sehen, Edition Tryko. Zürich 1999.
Christina von Braun: Geheim-Weh. Die Sehnsucht des Subjekts nach Unerfülltem, in: Marion Strunk: Vom angenehmen Leben, Edition Howeg, Zürich 1999.